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Beitrag vom 03.11.2005
Lost Children
Karin Effing
Die Regisseure Ali Samadi Ahadi und Oliver Stoltz führen in die traurige Welt der KindersoldatInnen. Mit Einfühlungsvermögen und Geduld vermitteln sie Unvorstellbares. Bewegend und wichtig.
Seit fast 20 Jahren findet im Norden Ugandas ein kaum von der Weltöffentlichkeit beachteter Krieg statt, in dem ein unvorstellbares, systematisches Morden stattfindet. Die Mitglieder der fanatisch-religiösen "Lord´s Resistance Army" (LRA) entführen Kinder aus ihren Dörfern und zwingen sie, zu töten. Dabei geht die LRA mit ausgesprochener Brutalität vor und schreckt vor keiner Grausamkeit zurück. Aus den Kindern werden TäterInnen gemacht, die in ihrer Gemeinschaft auf wenig Verständnis stoßen und kaum Rückendeckung erhalten.
Damit werden einem Volk nicht nur die Kinder genommen, sondern auch über Generationen hinweg Lebensgrundlage und Zukunft.
Der Dokumentarfilm führt die Zuschauerin in ein Auffanglager der Caritas International für geflohene KindersoldatInnen in Pajule im Norden Ugandas.
Im Rebellengebiet gelegen und von Regierungstruppen schlecht bewacht, wird die Siedlung häufig von Anschlägen der Milizen heimgesucht. Die hier arbeitenden SozialarbeiterInnen riskieren täglich für wenig Geld ihr Leben, um den Kindern bei ihrem schwierigen Weg zurück in einen menschenwürdigen Alltag zu helfen. Sie selbst sind im Krieg aufgewachsen und wie die Kinder wissen sie nicht was Frieden ist.
Anhand der Entwicklung von vier Kindern, die versuchen in ein einigermaßen normales Leben zurückzufinden, entfaltet sich vor den Augen der Kinobesucherin die Realität der KindersoldatInnen und das Engagement der beiden SozialarbeiterInnen Grace Arach und John Bosco.
Der 12-jährige Francis ist einer der Jungen, die von John Bosco betreut werden. Wir dürfen die Gespräche der beiden miterleben, in denen der Junge erzählt, dass er zusehen musste, als andere Kinder getötet wurden. Danach sei allen entführten Kindern klar gewesen, dass ihnen dasselbe droht, wenn sie es wagen sollten zu fliehen oder sich den Befehlen der Rebellenführer zu widersetzen. Die 14-jährige Jennifer war fünf Jahre lang in den Händen der LRA. Sie wird gequält von schweren Alpträumen, in denen ihr die Menschen erscheinen, die sie getötet hat. Nach ihrer Entführung wurde sie als Hausmädchen beim Rebellenführer Joseph Kony in dessen Lager im Sudan eingesetzt. Als sie elf Jahre alt wurde, bekam sie eine Waffe und musste kämpfen. Sie beschreibt, wie sie zusammen mit anderen Mädchen von einem Kommandanten der Rebellen vergewaltigt wurde. Deshalb hat sie Angst, dass sie HIV-positiv ist. Da sie ein Mädchen ist, muss ihr Vater über ihre Zukunft entscheiden. Letztendlich aber kann sie sich ihren Traum, eine Ausbildung zur Näherin zu machen, erfüllen. Die junge Auszubildende ist glücklich und man erkennt sie kaum wieder. Ein weiteres Kind, Kilama, um das sich Grace Arach kümmert, konnte 12 Monate nach seiner Entführung fliehen und erfuhr erst dann, dass seine Eltern ermordet wurden. Ihn verfolgt die Erinnerung an einen kleinen Jungen, der mit ansehen musste, wie Kilama dessen Mutter erstach. Der religiöse Junge betet Tag und Nacht, um Vergebung zu erlangen. Wie die anderen Kinder auch findet er wenig Unterstützung durch seine Verwandten. Seine Großmutter findet ihn unheimlich. Immerhin ist sie bereit, das Ritual zu organisieren, das ihn von seinen Alpträumen heilen soll. Alle seine Verwandten kommen und tatsächlich wird er von seinen Alpträumen befreit. Die Hütte seiner Verwandten, in der er nach seinem Aufenthalt im Lager untergekommen ist, ist ihm zu unsicher, und so geht er jeden Abend ins Stadtzentrum, um dort auf der Straße zu übernachten. Das jüngste der Kinder, Opio, ist gerade mal 8 Jahre alt. Aufgrund seines Alters konnte er noch kein Unrechtsbewusstsein entwickeln und empfindet anscheinend keine Reue.
Die Gespräche mit den Kindern geben Einblick in ihre Welt. Durch die zaghafte und warme Führung der beiden Regisseure nähert sich die Zuschauerin langsam dem Grauen in seinem ganzen Ausmaß und kann es zulassen, ohne sich emotional abzuschotten. Manchmal geben Details den Bildern eine zärtliche Komponente. Während Opio von unvorstellbaren Foltermethoden erzählt, trägt er einen Strickpullover mit einer kitschigen Katze darauf.
Unverständlich ist, warum gegen Ende des Filmes gerade die Bilder auf die Leinwand geworfen werden müssen, die eine Einfühlung gerade nicht erlauben. Die abgeschnittenen Ohren eine Junges im Lager machen es vorstellbar, was die Kinder durchmachen. In Erdlöcher geworfene Leichen und abgetrennte Körperteile lösen Übelkeit aus, können aber nichts darüber hinaus vermitteln. Der Mensch kann Leid nur in kleinen Dosen vertragen, alles andere ist Traumatisierung oder Abstumpfung.
"Wir legen bei diesem Film den Schwerpunkt voll und ganz auf die Kinder. Wir machen keine politische Reportage über einen Konflikt und dessen schwierige Hintergründe, sondern erzählen die Geschichte von vier Kindern, denen dieses Schicksal widerfahren ist. Ein Film aus deren Perspektive und deren Augenhöhe. Bei so einem Thema muss man aufpassen, dass man nicht plump wird und Gefühlskitsch macht. [...] Das, was die Kinder vor der Kamera erzählen, soll den Zuschauer anregen, eigene Bilder zu diesen Geschichten zu entwickeln. [...] Die Geschichte des Films ist bestimmt vom Konflikt der Rückkehr der Kinder nach Hause in eine Gesellschaft, die sie meist ablehnt. Uns hat die Frage interessiert, ob diese Kinder jemals wieder zu Kindern werden können. Um darauf eine Antwort geben zu können, brauchten wir einen langen Atem und viel Geduld. Deshalb haben wir die Kinder auch über ein halbes Jahr begleitet, um ihre Entwicklung nachvollziehen zu können." kommentieren Ali Samadi Ahadi und Oliver Stoltz ihren sensiblen Film.
Lost Children wurde bei den Berliner Filmfestspielen 2005 uraufgeführt und inzwischen auf vielen internationalen Festivals mit Preisen ausgezeichnet. Zuletzt hat der Film in Gent den UNICEF Preis erhalten.
AVIVA-Tipp: Der Dokumentarfilm "Lost Children" von Ali Samadi Ahadi und Oliver Stoltz ist ein Film, der der Zuschauerin Einblick in die verletzten Seelen der KindersoldatInnen im Norden Ugandas ermöglicht. Die Wärme der SozialarbeiterInnen und der Überlebenswille der Kinder macht das Thema für die Betrachterin erträglicher. Nicht Hoffnungslosigkeit begleitet einen beim Verlassen des Kinos, sondern der Wunsch, zu helfen.
Lost Children
Buch und Regie: Ali Samadi Ahadi und Oliver Stoltz
Deutschland 2005, Länge: 96 Minuten
Kamera: Maik Behres
Musik: Ali N. Askin
Produzent: Oliver Stoltz
Mitwirkende:
Die Kinder: Richard Kilama, Jennnifer Akelo, Francis Ochaya, Vincent Opio
Die SozialarbeiterInnen: Grace Arach, John Bosco, Komakech Aludi
FSK 12
Kinostart: 03. November 2005
Weitere Infos zum Film unter www.lost-children.de